Hallo Enes, erzähl etwas über dich – wie alt bist du, wo kommst du her? Enes ist mein Name, ich bin 22 Jahre alt und ich studiere derzeit Lehramt an der Uni Duisburg-Essen mit der Fächerkombi Turkistik, Anglistik und Philosophie für Gymnasien und Gesamtschulen. Ich bin ursprünglich in Oberhausen geboren, im Speziellen in Osterfeld, bin bis zum Abitur auf die Gesamtschule Osterfeld gegangen und lebe dort weiterhin.
Wie verlief deine Schulzeit? Welche waren deine Lieblingsfächer? Wie war dein schulischer Laufweg? Mein Lieblingsfach war am Anfang Mathe – ich war ein kleines Mathewunderkind und ich hatte echt Spaß daran. Englisch und Deutsch waren am Anfang echt nicht so meine Lieblingsfächer, auch wenn ich immer gute Noten hatte. Wenn man mich gefragt hätte damals, was ich mal später machen möchte, hätte ich gesagt: Nichts, wo man etwas mit diesen Fächern zu tun hat – und nun ist das Gegenteil passiert.
Aber zu meiner Schulzeit: Ich habe mich von der 5. Klasse zum Abitur schon verändert. Von einer sehr introvertierten Person zu einer Person mit extrovertierten Zügen. Am Anfang hatte ich Probleme mit Freunden bzw. mit scheinheiligen Freunden und Mobbingerfahrungen, Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen aufgrund meines Hintergrunds. Auch meine sehr guten Leistungen waren ein Grund, dass ich gehänselt wurde.
Ich hatte und habe schon immer viel Verantwortung in der Familie. Unter anderem kümmere ich mich um meine kranken Großeltern, wobei mein Opa mittlerweile verstorben ist. Ich war damals einfach nicht so sozial offen und konnte durch die Verpflichtungen z.B. nicht an Ausflügen der Schule teilnehmen und das hat das noch verstärkt. Ich hatte dadurch auch irgendwie nicht so viel Sozialkompetenzen im Umgang mit anderen. Das kam erst mit der Zeit. In der EF habe ich mir bewusst vorgenommen, dass ich offener und populärer sein, aber meine Leistungen aufrechterhalten möchte. Ich war sehr engagiert z.B. als Schulsprecher. Dann hieß es, dass ich verkrampft so sein möchte und etwas vorspiele.
In mir hatte ich dann das Gefühl, dass egal, was ich tue, ich immer im Zwiespalt bin – sei es jetzt mit meinem Migrationshintergrund und der deutschen Identität, sei es mit meinen Leistungen und den Freundeskreisen, die ich hatte.
Im Abitur war ich dann auf einmal die Rakete, zu der jeder aufgeschaut hat. Jeder wollte etwas mit mir zu tun haben, sei es wegen der Noten oder weil ich ein umgänglicher, solider Typ geworden war.
Das klingt nach einer relativ herausfordernden Schulzeit… Was hat dir geholfen, da durchzukommen? Ja, auf jeden Fall. Gerade die Herausforderung familiär so viel zu übernehmen, kam wie gesagt dazu. Am Ende sind es die guten Noten gewesen. Das war vielleicht nicht das gesündeste Verhalten, aber sozial und kommunikativ lief es damals nicht gut und wenn gute Noten kamen, habe ich mich sehr gefreut und das hat gepusht. In meiner Familie gab es für gute Noten natürlich viel Zuspruch und der Rückhalt hat mir auch geholfen.
Wie kam es, dass du für dich entschieden hast, sozusagen den Schalter umzulegen und etwas zu verändern? Ich würde sagen, dass es ein intrinsisches Motiv war. Durch YouTube und Social Media habe ich gesehen, dass es Menschen gibt, also sehr bekannte Persönlichkeiten wie Ali Abdaal oder Iman Gadzhi, die waren aus akademischer Sicht herausragend und gleichzeitig finanziell und sozial super erfolgreich. Ich habe mich gefragt: Was ist der große Unterschied zwischen ihnen und mir? Es ist für mich genauso machbar wie für sie. Die Erkenntnis war, dass man es schaffen kann, wenn man es versucht und sich Ziele setzt.
Dazu kam vor allem im Studium einfach so eine Art Kreislauf der Dankbarkeit. Ich habe gemerkt, wenn Leute meine Leistungen anerkennen, tut mir das gut. Aber auch dass es schön ist, anderen positiv und wertschätzend gegenüberzutreten und dass sich das gegenseitig bedingt.
Gibt es für dich denn gerade ein bestimmtes Ziel, auf das du hinarbeitest? Persönlich gesehen habe ich noch einige Ziele vor mir. Über die Jahre hinweg hat sich mein starker Fokus von den akademischen Leistungen auf meine Persönlichkeit verlagert. Ich bin derzeit viel zufriedener als damals. Aber ich bin natürlich kritisch mit mir selbst und Persönlichkeitsentwicklung ist mir sehr wichtig.
Aber klar ist es nun mein Ziel, meinen Bachelor zu bekommen, Talentpate zu werden, irgendwann selbst Talentscout zu sein, ein paar Fortbildungen mitzunehmen und die beruflichen Chancen zu verbessern.
Ich möchte also beide Bereiche ausbauen, auch wenn es viel Arbeit ist.
Jetzt hast du selbst die Talentförderung schon erwähnt. Wie bist du damals zum Talentscouting gekommen? Mein Talentscout ist ja Nils und er hat Sprechzeiten bei uns an der Schule gehabt. Ich war in der EF oder Q1 und ich glaube, ich wurde von einer meiner Lehrkräfte eingetragen und dann bin ich überpünktlich zum Termin erschienen (lacht) – ich glaube, ich war zehn Minuten zu früh. Dann haben wir einfach geredet und geredet und es war das erste Mal, dass ich mit einer Person über meine Zukunft geredet habe. Was ich machen möchte und wer ich bin. In der Schule, egal, wie toll Lehrer waren, aufgrund des begrenztes Spielraums den sie haben, konnte man zwischenmenschlich nicht so einfach eine enge Bindung aufbauen. Mit meinem Talentscout ging es aber total schnell und wir hatten sofort eine Bindung zueinander. Das heißt ich bin schon ca. seit 4 Jahren dabei.
Eine lange Zeit… wie hat das Talentscouting dich in dieser Zeit begleitet? Ja, haha, schon, vier Jahre sind eine lange Zeit. Ich muss zugeben, dass der Anfang in der Schule den größeren Einfluss hatte.
Nils hat mir zum ersten Mal aufgezeigt, dass ich ein Talent bin. Vorher war das ja so, dass ich eher das Gefühl hatte, ein Außenseiter zu sein und mich nur durch meine Noten zu definieren. Dann gesagt oder verdeutlicht zu bekommen, dass ich mehr als nur das bin, das war etwas, das ich nicht kannte.
Ein Jahr später im Sommer gab es ein TalenteNetzwerkTreffen an der HRW und dort hatte ich das erste Mal Kontakt mit Gleichgesinnten und Menschen, die etwas verfolgen, die ähnliche Ambitionen und Erfahrungen haben wie ich. Das ist ein Event, an dem ich versuche immer wieder teilzunehmen, weil es immer wieder das Gleiche ist: Man lernt neue Leute kennen, man vernetzt sich und das ist echt einzigartig.
Das Talentscouting und das Netzwerken ist unter anderem auch der Grund, warum ich jetzt auch als Lehrbeauftragter am TalentKolleg Ruhr Oberhausen arbeite.
Erzähl doch mal, wie ist es dazu gekommen! Ich glaube, ich bin einer der ersten Lehrbeauftragten am TKR (Anmerkung: TalentKolleg Ruhr). Im Dezember 2022 wurde das TKR ja offiziell eröffnet und Nils hat mich als Talent eingeladen, dabei zu sein und auch mit einem Statement für einen Imagefilm mitzuwirken. Das hat mich sehr gefreut, weil es auch eine kleine Anerkennung ist und zeigt, dass man wertgeschätzt wird. In unserer WhatsApp-Gruppe wurde dann einige Zeit später geteilt, dass eine Stelle als Lehrbeauftragter am TKR offen ist. Die Beschreibung klang für mich zu gut, um wahr zu sein. Ich hatte dann ausführlich mit Nils darüber gesprochen, der mich ermuntert hat, mit der Leitung des TKR zu sprechen. Das habe ich auch gemacht. Wir haben über Anforderungen und so weiter gesprochen und seitdem bin ich Teil des Teams – seit einem Jahr fast schon und ich hoffe, auf ein langes Arbeitsverhältnis.
Schön, dass es dir gefällt. Was genau sind deine Tätigkeiten am TKR? Ich habe Qualifizierungskurse übernommen – am Anfang einen Grundkurs und einen Conversation-Kurs für Fortgeschrittene.Wir haben gemeinsam Konzepte entworfen, um den Erwartungen und Bedarfen der Teilnehmenden zu entsprechen.
Ziel ist es, den Unterricht didaktisch durchdacht und spielerisch zu konzipieren, damit die Talente etwas mitnehmen, aber auch Spaß haben und gerne herkommen. Das ist für mich der Sinn des TKR, dass man Kompetenzen vermittelt bekommt und gleichzeitig eine gute Zeit hat. Es ist mein Anspruch, dass sich das Motto des TKR Orientieren – Motivieren – Qualifizieren in meinem Unterricht wiedererkennen lässt. Es ist keine Institution wie eine Schule oder ein Nachhilfeinstitut und soll auch anders wahrgenommen werden. Wir sind für Talente neben dem Unterricht und den Workshops auch Bezugspersonen. Das, was ich mir früher auch gewünscht und mit meinem Talentscout bekommen habe. Für die Personen, die so etwas noch nicht haben, möchte ich so jemand werden. Das ist auch der Grund, weshalb ich mich entschieden habe, den Weg des Talentscouts bzw. des Talentpaten zu gehen.
Das schlägt ja auch eine gute Brücke zu deinem Studium. Wann war für dich klar, dass du in die Richtung Lehramt gehen möchtest? Es ist richtig banal, wie das passiert ist. In der 10. Klasse war für mich klar, dass ich studieren möchte, aber hatte mich damit eigentlich nicht auseinandergesetzt. Ich hätte Medizin, Psychologie oder Jura studieren können – diese „Prestige-Studiengänge“. Zwei meiner Lehrer, die ich sehr schätze, meinten zu mir: „Werde doch einfach Lehrer. Dich eines Tages neben uns zu sehen, wäre doch was.“ Seitdem hatte ich diese Idee in meinem Kopf. Nach dem Abitur hatte ich von außen so viele Eindrucke, dass ich mich überall beworben hatte. Ich hatte auch überall Zusagen und war total überfordert. Ich habe viel reflektiert und dann nochmal recherchiert. Ich hatte auch ein gutes Bauchgefühl und das war retroperspektivisch auch die beste Entscheidung.
Konnte das Talentscouting dich bei der Entscheidungsfindung unterstützen? Ich muss sagen, dass ich das eher alleine entschieden habe. Ich habe die Tendenz, wenn Zeiten schwieriger oder bepackter werden, mich zurückzuziehen und nichts von mir hören zu lassen. Und wie kann ein Talentscout mir helfen, wenn er nicht weiß, wie es gerade um mich steht? (lacht) Nachdem ich dann aber mitgeteilt habe, was ich machen werde, kam das Stipendienthema und da wurde ich maßgeblich unterstützt.
Kannst du uns da etwas mehr erzählen? Ich war, was die Noten betrifft, einer der besten in meinem Abiturjahrgang. Die Abteilungsleiterin hat mir und einer anderen Schülerin mitgeteilt, dass die Schule uns für ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes vorschlagen wird. In dem Moment war das wie eine Reizüberflutung. Ich hatte von Stipendien vorher nur im Filmkontext gehört –Sportstipendien in den USA – und das war eine komplett weit entfernte Welt für mich. Ich wusste nicht einmal, dass es in Deutschland Stipendien gibt. Ich hatte keine Berührungspunkte damit gehabt.
Und deine Bewerbung war erfolgreich? Ja und ich werde auch in meinem Master weitergefördert.
Es ist ein interessantes Gefühl sich Stipendiat zu nennen. Mittlerweile habe ich es angenommen, aber es gibt manche Momente, wo es surreal ist.
Zum Beispiel habe ich einen Sprachkurs belegt innerhalb der ideellen Förderung, wo ich zusammen mit einem weltweit bekannten Professor jeden Tag zusammen zu Mittag gegessen habe. Wenn ich es anderen Menschen erzähle, ist es manchmal so, dass sie komplett davon überwältigt sind und sagen, welche bemerkenswerte Leistung man da erbracht hat. Es gibt aber auch Leute, die das total klein reden. Ich bin dann aber stolz auf das, was ich erreicht habe. Ich bin ein Teil einer großen Stiftung mit ganz vielen herausragenden Menschen – das kann mir keiner nehmen.
Du hast ja schon durchscheinen lassen, dass du ein familiärer Mensch bist. Wie ist es für deine Familie, dass du diesen bewundernswerten Weg hinter dir hast? Wie finden sie es, dass du Lehramt studierst? Sie stehen total hinter meiner Berufsentscheidung. Beim Stipendium realisieren meine Eltern nicht wirklich immer, was das eigentlich ist. Sie waren aber schon immer stolz auf mich und meine Noten.
Es ist aber auch eine Wahrheit, dass große Leistungen große Schatten mit sich ziehen. Ich habe einen kleinen Bruder und Cousinen und Cousins. Die Familie erwartet von ihnen durch mein Beispiel, dass sie auch so einen Weg gehen, aber das ist nicht für jeden möglich. Dadurch fühle ich mich manchmal beschämt und wünsche mir für meinen kleinen Bruder, dass er seinen eigenen Weg gehen kann. Sich mit anderen zu vergleichen macht keinen Sinn, weil jeder besonders ist und jeder andere Bedingungen bzw. einen anderen Kontext hat.
Mit diesen Erfahrungen, die du gesammelt und Herausforderungen, die du bewältigt hast: Was würdest du anderen Schülerinnen und Schülern empfehlen, wenn es darum geht eine Entscheidung für ihre Zukunft zu treffen? Ich würde mehrere Sachen sagen. Erstmal würde ich sagen, dass sie sich entspannen sollen. (lacht) Das ist mein größter Rat. Es ist natürlich wahr, dass wir eine sehr lange Zeit in einem Beruf sein werden, aber es ist nicht schlimm, wenn man Berufs- oder Branchenwechsel hat. Dieser Druck der von verschiedenen Seiten kommt, dass man schon mit 15 oder 16 weiß, was man werden soll – da kann man nicht hinter stehen. Man ist dann nicht mal biologisch erwachsen. Macht einfach entspannt eine Sache nach der anderen und guckt, wo eure Leidenschaften liegen. Stellt euch viele Fragen: Wer ihr seid, was ihr machen wollt und wohin ihr hinkommen möchtet. Ich habe mal ein Video gesehen, was mir seitdem im Kopf geblieben ist: Such dir etwas aus, was du für umsonst machen würdest und mache es zu deiner Karriere. Dann hat man die Liebe zum Beruf, die am Ende des Tages das A & O ist.
Leider bin ich den Tipps früher selbst auch nicht gefolgt, gerade dem der Entspannung. Das mit der Leidenschaft habe ich erst im Studium und in meiner Lehrtätigkeit verstanden. Das ist auch häufig das Schwierige – das man erst merkt, ob es einem liegt, wenn man es wirklich macht.
Jetzt haben wir viel über den Beruf gesprochen. Wie verbringst du denn deine freie Zeit? Ich mache alles. Ich bin viel unterwegs, mit Freunden oder beruflich – und das möchte ich genau so machen. Ich beschäftige mich auch mit dem Thema Finanzen und mache mich damit selbstständig. Ich habe viele Hobbys und Interessen, aber zu wenig Zeit um alles auszuüben. Zum Beispiel habe ich vor Kurzem mit Videobearbeitung und Videoschnitt begonnen. Da würde ich gern weiterhin mehr Zeit investieren. Personal development und self-improvement sind mir generell wichtig. Ich habe eigentlich auch schon immer total viel gelesen.
Wenn du einen Workshop halten würdest, was wäre dann dein Thema?
Ich würde Leuten gerne aufzeigen wollen, wie besonders sie sind. Das mag klischeehaft klingen, aber das habe ich aus dem Talentscouting mitgenommen und über die Jahre selbst erlebt.
Wenn ich Unterricht gebe und höre, dass Schüler sagen, sie sind nur irgendwer, denke ich mir: Nein, ihr seid nicht nur irgendwer und ihr seid wertvoll. Ich würde gerne den Schubser geben wollen, dass sich ihr Selbstbild und Selbstwert dahingehend aufbaut. Es ist ja auch philosophisch angehaucht.
Gute Überleitung: Wir bitten alle Talente folgenden Satz zu vervollständige: „Ich bin ein Talent, weil…?“ Ich bin ein Talent, weil ich ich bin. Weil ich anerkannt habe, wer ich bin und akzeptiert habe, dass ich ein Talent bin.